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Die Magie des Namens
Dass zu allen Zeiten an verschiedenen Orten gerade Namen hinterlassen wurden, ist gewiss kein Zufall, sondern hat seine Wurzeln in der Menschheitsgeschichte. In allen Kulturen wird durch die Namensgebung auch eine individuelle Unterscheidbarkeit und - man denke an Adam, der den Tieren Namen gibt - ein Machtgefüge etabliert. Das Einschreiben von Namen ist dabei eine Art Analogiezauber: Man fügt dem Ort den eigenen Namen bei, nimmt ihn gewissermassen für das eigene Danken und Erleben in Besitz und teilt gleichzeitig diesen Umstand allen anderen mit, die diese Inschrift sehen - oder sich möglicherweise auch schon selbst am gleichen Ort verewigt haben.
Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat gerade im Bezug auf die Graffiti und die Frage nach gesellschaftlicher Macht eine neue Entwicklung festmachen wollen. Sein Essay "Kool Killer oder die Revolution der Zeichen" von 1975 verfolgt den Gedanken, dass Graffiti das Zeichensystem Sprache unterwandern, da sie von Normalsterblichen schlecht lesbar seien. Dadurch, dass die Namen der New Yorker Writer öffentlich keine eindeutige Person bezeichnen, brechen sie "als leere Signifikanten ein in die Sphäre der erfüllten Zeichen der Stadt, die sie durch ihre blosse Präsenz auflösen". Sowohl die erklärte Absicht der Writer, sich innerhalb ihrer eigenen Szene eindeutig einen bekannten und akzeptierten Namen zu schaffen, als auch der nachher entstandene Ruhm einzelner Writer als öffentliche und klar festgelegte und identifizierbare Person lässt Baudrillards Thesen heute eher problematisch erscheinen.
Zudem wurde möglicherweise schon in den 1970er Jahren seltener der Name einer gesellschaftlich-politisch wichtigen Person als eher der einer wirtschaftlich erfolgreichen Marke öffentlich kommuniziert. „My name in lights“: Der Werbedruck von Eigennamen wie McDonald’s, Ferrari oder Giorgio Armani erscheint weitaus eher als ein Impuls, in kampagnenartigen Strategien den eigenen Namen ans Laufen zu bringen. Aus Adidas oder Haribo sind Kürzel, die sich auf die bürgerlichen Namen der Gründer Adi Dassler und Hans Riegel zurückführen lassen. Starbucks und Häagen-Dazs schliesslich sind Fantasie-Namen, die eine familiäre Herkunft suggerieren sollen und vielleicht gerade deshalb so gut zu den globalisierten Produkten passen.
Dass in der Welt der Street Art gerade die amerikanischen Namens-Pieces weltweit ein so überzeugendes Vorbild werden konnten, liegt nicht nur an ihrer medialen Verbreitung. Ein wichtiger Grund dürfte auch sein, dass ihr gedankliches Format durch die Strategien der Werbung genau vorgeprägt ist. In der Wahrnehmung und Aneignung der Writer finden sie eine zeitgemässe Form des uralten Traums, den eigenen Namen ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu bringen.
Aus der Anonymität heraustreten und zur erkennbaren Person werden: Diese Spiel zeigt sich in vielen Bildern der New Yorker Writer. Nicht ohne Grund heissen die Bildfiguren neben den Namenszügen „Characters“. Sie illustrieren neben dem Namen immer auch ein Selbstverständnis: als gehetzter Krimineller, als Star, als Schattengestalt mit mythischem Hintergrund, als Comicfigur. Nicht wenige dieser bildlichen Darstellungen sind echte Selbstporträts. Die zahlreich publizierten selbstgemachten Fotos unterstreichen dies zusätzlich. Sie zeigen die Writer mit stolzer, präsentierender Geste neben ihren Werken. In dieser Form öffentlicher Ausstellung fallen die Personen, das Werk und der Name zusammen. Und letztlich gestalterlischen Fassung des Namens eine veränderte Charakteristik, ein neues Selbstporträt der Person.
Aber vielleicht sind wir heute schon wieder in einer andern Situation. In Zeiten globaler Überwachung öffentlicher Plätze rund um die Uhr, von über Handydaten und elektronische Zahlungsvorgänge leicht herstellbaren Bewegungsprofilen haben sich die Verhältnisse entscheidend geändert. Ein Paradigmenwechsel hat inzwischen stattgefunden. Identitätsdiebstahl ist ein die Gesetzgeber zunehmend beschäftigendes Delikt geworden. Private Firmen spezialisieren sich darauf, ihre Kunden davor zu schützen, dass ihr guter Name gekapert und das Konto leergeräumt wird. Und so ist es möglicherweise zum heutigen Zeitpunkt besonders attraktiv geworden, seinen Namen mit grossen leuchtenden Buchstaben am nächtlichen Himmel zu sehen und gleichzeitig zu wissen, dass es nicht der eigentliche bürgerliche Name ist, sondern dass dieser in gut geschützter Anonymität verbleibt. Der Kult um Celebrities findet sein Äquivalent in der zunehmend geschützten Anonymität der eigentlichen Person. „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen“, liess bereits 1969 der deutsche Konzeptkünstler Timm Ulrichs auf seinem Grabsein eingravieren: eine Art Vorsorgemassnahme gegen zu viel Ruhm an genau der Stelle, an der bürgerliche Namen normalerweise die Jahrzehnte überdauern. Bansky, der inzwischen weltweit bekannte Street-Art-Protagonist aus Bristol, überspitzt das noch weiter. Er wandelt das berühmt gewordene Zitat von Andy Warhol um, dass in Zukunft jeder berühmt werden könne, aber nur für 15 Minuten: In Zukunft solle jeder versuchen, wenigstens 15 Minuten anonym zu bleiben.
Quelle: Street Art. S. 38-41. (2009). Tandem Verlag GmbH. ISBN: 978-3-8331-4943-6