Das Gehirn schreibt

Nicht zwei Menschen schreiben genau gleich. Die Handschrift ist also ein Ausdruck für die Individualität des Menschen, wie er exakter nicht gedacht werden kann. Die ganze Erlebnisweise eines Menschen, die Art, wie er sich in der Welt vorfindet, wie er sich zur Welt stellt, wie er an sich arbeitet oder Hemmungen einschaltet, Rhythmus und „Klangfarbe“ seines gesamten Verhaltens kommen in der Handschrift zum Ausdruck.

Alle Handschrift ist Gehirnschrift. Diese Erkenntnis hatte bereits 1885 der österreichische Graphologe Dr. Eugen Schwiedland. Aber er konnte, da damals die neurologisch-physiologische Unterbauung der Graphologie noch fehlte, die Tragweite seiner Entdeckung noch nicht ermessen. Alle früheren Graphologen, besonders der Franzose Crépieux-Jamin, aber auch Ludwig Klages, hatten nicht die Möglichkeit, exakte Verbindungslinien zur Physiologie des Gehirns zu ziehen, dessen Zustand und Dynamik in jedem Strich, in jeder Hin- und Herbewegung, in jedem Bogen und jeder Figur zum Ausdruck kommt. Sie haben noch viel zu sehr den allgemeinen Eindruck walten lassen. Ohne Zweifel haben sie, wenn man so sagen soll, „gestaltmäßig“ in einer jedem zugänglichen Form Wichtiges für die Graphologie geleistet, aber sie wollten allzu unmittelbar eine Charakterdeutung vornehmen, und das Verhältnis von Intuition, also Einfühlung jenseits aller Logik, und exakter physiologischer Analyse wurde bei ihnen schief. So konnte es denn nur zu einer unvollkommenen graphologischen Wissenschaft kommen, und mit Genugtuung weisen die Gegner der Graphologie – eine noch immer nicht ausgestorbene Menschengattung – darauf hin, daß man in den Vereinigten Staaten einmal alle bedeutenden Graphologen getestet habe, und dabei hätten sie sich so gründlich geirrt, daß die ganze Graphologie in Mißkredit kam. In USA gibt es aber überhaupt kaum eine wissenschaftliche Graphologie, und so dürfte dieser Einwand wenig stichhaltig sein.

Wer einmal die Hunderttausende von Hirnschnitten sieht, die das Forscherehepaar Vogt in seinem Hirnforschungsinstitut (Neustadt im Schwarzwald) aufbewahrt, der muß sich überzeugen, daß jeder Mensch „sein eigenes Gehirn“ hat. Dabei handelt es sich hier zunächst nur um die Anatomie und noch nicht einmal um die Funktionen des Gehirns. Die Graphologie aber muß dauernd mit dem Funktionsbegriff arbeiten; denn jeder Strich, jeder Buchstabe, den wir niederschreiben, ist eine Funktion gewisser Hirnpartien, und nirgends stehen wir so unmittelbar an der Quelle der Leib-Seele-Einheit, jenes Grundbegriffes aller modernen Psychologie und Medizin, wie bei der Handschriftendeutung.

Schon vor Jahrzehnten hat Preyer systematische Versuche dazu angestellt, indem er Menschen mit dem Mund oder dem Kopf oder dem Fuß schreiben ließ, aber, um ja sicherzugehen, auch mit dem Knie, dem Arm, dem Kinn, mit der linken Hand, mit den verschiedenen Fingern der beiden Hände, und er fand bestätigt, „daß die individuellen Verschiedenheiten der Handschrift nicht von der Hand abhängen, sondern von dem Gehirn, welches diktiert, wie geschrieben werden soll“. Ein arm- und beinloser Mann schrieb in Preyers Gegenwart Schriftzüge so fließend und deutlich mit dem Munde nieder, daß niemand daran etwas zu finden vermöchte, was sie von einer Handschrift unterschiede.

Preyer hat die Methodik der wissenschaftlichen Graphologie festgelegt, indem er einfache klare Grundsätze schuf und so die Forschung vor vielen Irrwegen bewahrte. Umwege allerdings konnte er ihr nicht ersparen, denn jede Wissenschaft muß im Laufe ihrer Entwicklung Umwege machen, und das ist, wenn sich diese als fruchtbar erweisen, auch kein Schade. So hat Preyer festgelegt, daß sich alle Schriftmerkmale auf Abwandlung der Schreibrichtung, der Strichlänge und -breite und der Unterbrechungen zurückführen lassen.

Worin besteht nun das Wesen der wissenschaftlichen Graphologie, und warum ist gerade sie – und nur sie – in der Lage, über alle vagen und verwaschenen graphologischen „Deutungen“ hinauszuführen und eine exakte Grundlage für die in der Wissenschaft, Technik und überhaupt im öffentlichen Leben notwendig gewordenen zahllosen graphologischen Gutachten zu geben? Die beiden neuen Werke Rudolf Pophals („Die Handschrift als Gehirnschrift“ und „Zur Psychophysiologie der Spannungserscheinungen in der Handschrift“, Greifen-Verlag, Rudolstadt) zeigen uns dazu den Weg.

Die antiken Vorstellungen von der Leib-Seele-Einheit waren lange in den Hintergrund getreten. Bei Goethe und Carus findet sich die Wiederentdeckung dieser Grundvorstellungen, die uns alles leib-seelische Geschehen erst verstehen lassen. Aber erst die moderne medizinische Psychologie, etwa seitdem Prinzhorn am Anfang des Jahrhunderts den Begriff der Leib-Seele-Ein-

heit mit neuem Inhalt und Sinn erfüllte, drang weiter vor, und nun erfolgte Schritt für Schritt, ein Stein nach dem andern wurde gelegt. Ein bekannter Psychiater unserer Tage, Thiele, sprach es unmißverständlich aus: Die These, daß in der Organisation des Gehirns die Struktur des Seelenlebens bis in ihre feinsten Einzelzüge sich irgendwie verkörpere, und daß ein durchgängiger gesetzlicher Zusammenhang zwischen den Gliedern der psychischen und der physischen Erscheinungsreihe bestehe, wird nicht aufhören, als ein Leitgedanke unseres Naturbegreifens wirksam zu sein.

Alles, was in den Äußerungen des Menschen und vor allem in seiner feinsten, differenziertesten, der Handschrift, zum Ausdruck kommt, ist also von irgendeinem Teil des Gehirns her gesteuert, und viele Gehirnteile haben gleichsam das Ziel und die Absicht, in solchen Äußerungen in Erscheinung zu treten. Dabei steht nun schon seit Carus fest, daß es entwicklungsgeschichtlich drei Stufen der Seelenentwicklung des Menschen gibt: die bewußt bildende, die weltbewußte und die selbstbewußte. Diese drei Entwicklungsstufen des Seelenlebens haben Entsprechungen im Gehirn. Den Forschungen der neueren Hirnanatomie und der modernen Graphologie gelingt es, immer tiefer in diese Zusammenhänge einzudringen. Pophal spricht von einer „Pallidumschrift“, also einer Schrift, in der das Überwiegen der mehr unbewußten leiblich-seelischen Bereiche zum Ausdruck kommt. Er analysiert hier die Schriften bedeutender Männer wie des Klinikers Friedrich Kraus, der die Lehre von der „Tiefenperson“, also der unbewußt-elementaren Persönlichkeit in uns, und der „Rindenperson“, der bewußten, durch Wille und Intellekt gesteuerten Persönlichkeit in uns, medizinisch außerordentlich reich ausgestaltet hat, ferner die Napoleons, Wallensteins, Richard Wagners, Tschaikowskijs und vieler anderer. In allen diesen Schritten findet er elementare Züge, ungezügelte und ungehemmte Ausbrüche der „Tiefenperson“, natürlich immer wieder auch gesteuert durch Kräfte der „Rindenperson“. Die Schrift zeigt also bei solch genauer Analyse das Verhältnis an, in dem die elementaren, vom Pallidum her gesteuerten Züge der Persönlichkeit zu den bewußten stehen, die den Menschen als erkennendes Wesen charakterisieren. Zahllose, in die Hunderte gehende Begriffe wichtiger Eigenschaften wie Hemmung und Enthemmung, Überschwenglichkeit, Initiativgeist, Ablenkbarkeit, Tätigkeitslust, Flüchtigkeit – wie man sieht, also stets positiv und negativ betonte – bilden das Werkzeug, mit dem man an die Deutung der Schrift des einzelnen Menschen herangeht. Dadurch aber entsteht ein umfassendes Bild seines leib-seelischen Wesens.

Von der Schrift, die vor allem durch das „Pallidum“, also die unbewußt-elementaren Vorgänge in der Seele und im Gehirn, gesteuert wird, unterscheidet sich die „Striatumschrift“. Sie wird vom „Striatum“ gesteuert, jenem Teil des Urhirns, in dem ein erster Hemmechanismus lokalisiert ist. Auch hier ist, im Gegensatz zu den höheren Schichten des bewußt erkennenden Wesens Mensch, noch eine gewisse Verwandtschaft mit dem Tier, mit dem Animalischen vorhanden. Die Striatumschriften, von denen Pophal gleichfalls. eine große Anzahl analysiert, sind wenig ergiebig, uninteressant, ja langweilig. Das beruht darauf, daß die elementare Gefühlswelt nicht mehr in ihrer unmittelbaren Fülle wirkt, sondern daß bei solchen Menschen die Hemmungen überwiegen. Diese sind aber nicht geistig und von höheren Willenstendenzen her verarbeitet.

Die dritte Gruppe der Handschriften, die von der Hirnrinde gesteuerte Schrift, gibt uns Einblick in das Seelenleben geistig betonter Menschen. Diese sind durchaus nicht immer Genies. Hier läßt sich aus der Handschrift der wissenschaftlich-theoretische Typus erkennen, ebenso aber der ästhetische Typ, wie ihn Pophal als „Selbstentfaltungsmensch“ bezeichnet. Bei den Selbstdarstellungs- oder Geltungsmenschen stehen Eitelkeit, Selbstbespiegelung, Förmlichkeit, Affektiertheit im Vordergrunde. Ihnen steht gegenüber die Schrift des Selbstzuchtmenschen, des ethischen Menschen, ja, Pophal glaubt, sogar Merkmale des religiösen oder des politischen Menschen in der Handschrift zu finden.

Allerdings betont Pophal immer wieder, daß die Schriftanalyse nur einen Weg bildet zur Erkenntnis des Wesens eines Menschen. Andere Ausdrucksmerkmale müssen hinzugenommen werden, der Gang, der Gesichtsausdruck, das Gesamtverhalten, also Merkmale dynamischer wie statischer Art. Auch das, was über die Entwicklung und Umwelt des betreffenden Menschen bekannt ist, muß für das Gesamtbild herangezogen werden, aber die Graphologie traut sich doch zu, allein aus dem Schriftbild tief in Charakter und Wesen eines Menschen einzudringen. Je sorgfältiger die Methoden dafür ausgearbeitet werden, bis hin zu der neuen mikroskopischen Analyse des Strichs, desto größer werden die Möglichkeiten für die Graphologie als einen selbständigen Zweig der Psychologie. Freilich wächst mit der gesteigerten Inanspruchnahme von Graphologen zur Erkenntnis des Charakters im industriellen, wirtschaftlichen und persönlichen Leben auch die Verantwortung dieser wissenschaftlichen Graphologie von Jahr zu Jahr. Die Graphologie ist heute nicht mehr „Zauberei“, sondern eine schwere, aus Intuition und mühsamer Arbeit gemischte Kunst und Wissenschaft.

 

Quelle: Hans Hartmann, DIE ZEIT, 3.8.1950 Nr. 31