Gut zu wissen
Zurück zum SuchergebnisMit Bildern Schreiben fördern
Das Projekt des Fotografen Holger Jacobs
Die Überraschung war gross, als der «Mister Schweiz» von 2009 öffentlich darüber sprach, dass er zwar die einzelnen Buchstaben des Alphabets schreiben, aber keinen zusammenhängenden Text lesen und sich nicht schriftlich mitteilen könne. Der damals 22-jährige, charmante und intelligente Mann war kein Einzelfall. Neun Prozent der Jugendlichen seiner Altersklasse in der Schweiz sind, so der Fachausdruck, funktionale Analphabeten. Insgesamt können mindestens 80‘000 Menschen in der Schweiz weder Texte lesen noch schreiben, in Österreich sind es geschätzte 300 000, in Deutschland 3 Millionen. Die Folgen sind für die Betroffenen im Prinzip nicht anders als für die 800 Millionen sogenannten primären Analphabeten weltweit. Das sind Menschen, die überhaupt keinen einzigen Buchstaben lesen und schreiben können. Nicht nur die Welt des Buches und des Internets ist funktionalen Analphabeten ebenso verschlossen wie den primären Analphabeten, nicht nur Briefe und Zeitungen können sie nicht entziffern, auch Strassenschilder, Hinweistafeln, Warnungen und Verbote, Gebrauchsanweisungen, Beipackzettel von Medikamenten – kurz, ein grosser Teil unter Umständen lebenswichtiger Informationen ist ihnen nicht zugänglich. Umgekehrt können sie sich auch nicht schriftlich ausdrücken, und wenn sie ein Formular ausfüllen sollten, stehen sie vor einer unlösbaren Aufgabe.
Das verschliesst den Betroffenen jede anspruchsvolle Berufstätigkeit, schliesst sie aus von einem wichtigen Teil des gesellschaftlichen Lebens, und nicht zuletzt schädigt all dies das Selbstwertgefühl. Gründe genug für nationale und internationale Organisationen, vor allem OECD und UNESCO, auf die Problematik aufmerksam zu machen und die Alphabetisierung zu fördern. «Als ich am 2. Oktober 2003 von der Literacy Decade 2003–2012 der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des weltweiten Analphabetismus hörte, war ich sofort begeistert», schreibt der Fotograf Holger Jacobs. «In dem Wissen, dass Lesen und Schreiben die Grundvoraussetzungen für Bildung und Integration in die Gesellschaft sind, wollte ich als freier Künstler einen Beitrag dazu leisten.»
Holger Jacobs, 1962 in Hamburg geboren, wurde gesuchter Modefotograf in Paris. 2004 siedelte er nach Berlin über und machte sich einen Namen als sensibler und ausdrucksstarker freier Fotograf. International bekannt sind seine Porträtfotografien, unter anderem von Barak Obama. Es ist denn auch kein Zufall, dass ein Künstler, der sich dem Gesicht, dem differenziertesten Ausdruck eines Menschen, zuwendet, betroffen ist von der Erkenntnis, welch grosse Behinderung es bedeutet, wenn man von einem wichtigen Teil der Kommunikation ausgeschlossen ist. Er musste jedoch drei Jahre lang suchen, bis er die überzeugende Idee fand, wie er mit dem Bild einen Beitrag zur Förderung der Schrift leisten könne.
Im Jahr 2006 porträtierte Holger Jacobs den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. «Das Shooting verlief sehr gut», erinnert er sich, «und ich bat ihn, bevor wir gingen, um einen handgeschriebenen Text zur Erinnerung an unser Zusammentreffen.» Jacobs war beeindruckt von der schönen Handschrift, und plötzlich hatte er das Thema für seine Alphabetisierungs-Serie gefunden: Bild und Text bedeutender Persönlichkeiten der Zeitgeschichte stehen gleichwertig nebeneinander. Den Porträtierten ist es freigestellt, einen eigenen Text zu schreiben oder ein Zitat zu wählen, das ihnen zusagt. So steht neben der Aussagekraft des Bildes die inhaltliche Aussage des Textes und die Charakteristik der Handschrift. Drei verschiedene Möglichkeiten der Kommunikation ergänzen sich zu einem vielschichtigen Ganzen. «Wie kann man besser die Bedeutung von Lesen und Schreiben an ein grosses Publikum heranbringen, als durch inhaltlich und formal aussergewöhnliche Schriften prominenter Bürger», kommentiert Jacobs. Es war nicht immer einfach, von den Vielbeschäftigten Termine zu bekommen. Manchmal musste er Monate, sogar Jahre warten, bis die Porträtsitzung zustande kam. Eine weitere Schwierigkeit entstand bei der Finanzierung. Ein Investor, der von der Idee begeistert war, versprach eine grosszügige Unterstützung, zog sich nach der Finanzkrise von 2009 jedoch zurück. Trotzdem konnte Holger Jacobs im selben Jahr in Hamburg 20 Werke mit sehr persönlichen Texten von bedeutenden Persönlichkeiten aus den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft vorstellen. Darunter waren der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, die Schriftsteller Günter Grass und Martin Walser, die Schauspielerinnen Anna-Maria Mühe, Maria Furtwängler und Iris Berben, der Theatermann Peter Zadeck und der Rocksänger Sir Rolf Geldof.
Doch dies war nur eine Etappe des Projekts. Holger Jacobs ist ein «Marathonkünstler»: Schwierigkeiten auf dem langen Weg bringen ihn vom Ziel nicht ab: Mit 40 Porträts will er seinen Beitrag zu den weltweiten Aktionen zur Förderung der Fähigkeit zum Lesen und Schreiben leisten.
Quelle: Scriptura 2014, S. 32-41