Gut zu wissen
Zurück zum SuchergebnisSchön Schreiben - Blüte & Zerfall einer Kultur
Die Geschichte der Schönschreibkunst lässt einen farbenfrohen Einblick in die Vielfalt der Erscheinungs- und Verwendungsformen gewinnen, wie sie vor allem in den letzten Jahrhunderten üblich waren.
Die Geschichte
Das Schönschreiben war ein Breitenphänomen und wurde zu einem wichtigen Bestandteil des Lebens in Alltag und Fest. Dem Schönschreiben kamen die unterschiedlichen Dimensionen der Sprache zu, nämlich Schönschreiben als sakraler Akt und als Ausdruck von Fest und Trauer, von Verbundenheit, Abschied, Widerstand gegen das Vergessen, als Dienst am ‹Wort›, im biblischen Sinn und schliesslich als Selbstdisziplinierung von Geist und Körper.
Paul Hugger
Paul Hugger hat in seinem faszinierenden Bild- und Schriftband die ästhetische Gestaltung des Schreibens und deren tief greifende Wurzeln in unseren Landen meisterhaft in Szene gesetzt. So schreibt er, dass das Schönschreiben als Ausdruck des persönlichen Könnens und als Mittel der eigenen Identitätsfindung einen hohen gesellschaftlichen Wert hatte. Der Zerfall dieser Kultur in der Moderne, der Zerfall des sorgfältigen Umgangs mit dem ‹Wort› wurde jedoch leider durch die Mechanisierung der Schrift eingeleitet. Ein Zeitgeist, der das stets Neue und rasch Vergängliche postuliert und bevorzugt, sei dafür verantwortlich, nicht das digitalisierte Zeitalter. Damit gehe eine millenare Kulturkunst dem Ende zu, die durch den Respekt des geschriebenen
Wortes gekennzeichnet war. Der Alltag hat die Handschrift schlichtweg verschluckt.
Das Geheimnis der Tagebücher
Gerade Tagebücher und Poesiealben waren und sind noch heute die handschriftlichen Zeitzeugnisse zärtlicher Freundschaften und poetischer Innigkeit. Als Mittel des Dialogs mit dem Ego war und ist das Tagebuch teilweise noch heute, in der Erscheinungsform des Blogs, ein eminent wichtiges Mittel auf der Suche nach dem eigenen Selbst. Hier wurden und werden in stiller Einsamkeit und im Hort einer geheimen seelischen Geborgenheit Glück und Leid, Hoffnung und Enttäuschung, Höhepunkte und Krisen des Daseins in Worten ausgedrückt und verarbeitet. Gerade Jugendliche in der Adoleszenzphase
legten Tagebücher und Poesiealben als Zeugnis der Erinnerung und als unauslöschliches Zeichen ihrer Zuneigung oder ihrer freundschaftlichen Gefühle an. Das 19. Jahrhundert feierte die Blütezeit des Tagebuchs, das uns nicht nur Einblicke in das Gefühlsund Liebesleben des Halters gewährte. Allein die Widmungen und die mit Bildern versehenen Texte stellen
ein Feuerwerk an Offenbarungen des gedanklichen und sprachlichen Duktus jener Zeit dar. Der Spiegel eines Zeitbilds wird in der Kalligraphie eines Menschen hinterlegt. Besonders rührend und eindrücklich sind stets Passagen geistiger Verfassungen, weil sie ein wahres Schmuckstück in puncto ‹Handgeschriebene Gefühlsdokumente› sind, das die Mentalitäten und die Stimmungslagen der Menschen im jeweiligen Jahrhundert spiegelt. So trivial die Einträge manchmal auch erscheinen mögen,
so eigenwillig oder manchmal auch konform, sie sind und bleiben kultur- und sozialgeschichtliche Leinwände, die einen Zeitgeist refl ektieren und auf ihre Art sind und bleiben sie absolut unersetzlich.
Das Juwel Handschrift
Die Handschrift ist ein Spiegel. Ein Tage- oder Logbuch ist eine Biografi e und eine Ansammlung von Erlebnissen und Kuriositäten, in der manchmal eine schillernde Romanfigur lebt. Wenn Sprache meisterhaft eingesetzt wird, kann der Schreibende einen zur Galionsfi gur taugenden Protagonisten erschaffen, der des einen Helden oder aber des anderen Scheusal werden kann. In der subjektiven Wahrnehmung lebt die Schönheit, lebt die Anziehung, lebt die Liebe zur einen oder anderen Handschrift. Oft ist sie irrational, geheimnisvoll und abenteuerlich. Was der Mensch von Hand erzeugt, verkörpert den grössten, spannendsten, reizvollsten und geheimnisvollsten Kosmos und weckt exploratorische Impulse immer wieder aufs
Neue. Ein Schriftbild ist eine Momentaufnahme, ist der Zauber, einen Augenblick kalligraphisch festzuhalten und damit mental weitere Bilder zu erzeugen. Dieser Zauber taucht die Wirklichkeit in die Farbtonalität der Schriftmagie.
Im Reich der Erinnerung
Geschichten sind die Juwelen des Geistes, die im einsamen Reich einer Erinnerung wohnen. In jeder einzelnen Facette spiegeln sich der Geist, das Leben und die Sehnsüchte eines Menschen. Ein Tagebuch beschenkt die Ewigkeit mit den geistigen Juwelen eines menschlichen Daseins. Geschichten, Poesien, Tagebücher – sie sind allesamt ein liebevolles Erbe und ein Vermögen für das Jetzt und das Morgen. Sie sind die Schatztruhe für die kommenden Generationen und die handschriftlich verfassten Sätze unter ihnen ermöglichen uns das Abenteuer des Geist- und Zeitreisens. Hier wird der Gedanke zum Vagabund, der Geist zum Nomaden und das eigene Herz zum Zigeuner.
Die Magie des Ausdrucks
Wenn Kunst als Sprache der Engel verstanden wird, muss es ein unendlich magischer Augenblick gewesen sein, als das erste Lied gesungen, das erste Gedicht gesprochen, das erste Bild gemalt, der erste Buchstabe von Hand geschrieben wurde. Da kam etwas Neues in die Welt, wunderbar, magisch und unvernünftig zugleich. In der Kunst des Schreibens lebt die leidenschaftliche Magie, die Menschen verzaubert, verändert, bereichert, berührt und rührt. Und – es sind Menschen, die das Zauberhafte ersinnen. In einer weithin entzauberten und rational verstandenen Welt bleibt die Kunst des Schreibens in jeder
Erscheinungsform ein unauslotbares Geheimnis. Durch ihre Schönheit wird sie den Menschen stets in den Bann ziehen, auf all das verweisend, was jenseits menschlicher Begrenztheit liegt.
Tagebücher – Wo eine Geschichte geschrieben wird, entsteht die Ewigkeit
Erinnerungen erhalten den Menschen am Leben und es sind Erzählungen und Geschichten, die das Leben oder das Werk eines Menschen würdigen und zelebrieren. In alten Biografien, Märchenbüchern, Geschichtensammlungen, Log- und Tagebüchern
stöbernd erkennen wir, dass einzig durch das überlieferte Wort der Mensch Zeit und Raum überwinden kann. Wer eine Geschichte hinterlässt, öffnet dem Lesenden die Tore zu den Sphären seiner Zeit und Wirklichkeit. In diesen magischen Zwischenräumen treffen wir grosse und kleine Helden wie auch unsere Väter, Mütter, Grosseltern und Lieben wieder. Als Zeitreisende unterwegs, bewundern wir die Sehenswürdigkeiten der Vergangenheit, berühren wir die Erkenntnisse der Gegenwart und legen sie der Zukunft als Erbe wieder ans Herz.
Schrift als ästhetischer Dialog
Schrift fördert, bindet und denkt in die Weite. Sie lädt mit kalligraphischem Schwung zum unverhofft offenen Dialog ein. Sie wirkt, evoziert und provoziert. Sie reagiert, polarisiert und kommuniziert. Sie lehrt, sie bereichert und sie verwirrt. Sie schockiert, sie berichtet und sie (be)zeugt. Sie (er)regt, sie beruhigt und sie teilt sich mit. Sie berichtet, sie heilt und nicht zuletzt – Schrift baut Brücken.
Schrift als fantastische Dimension
Die Handschrift ist und bleibt eine fantastische Dimension, in der man Tausende von Leben, Kulturen und Träumen leben und lesen kann. Man kann sich über Zeit, Raum und Gesetzmässigkeiten hinwegsetzen und entgegen jeder Logik dem Unwirklichen und Unfassbaren eine Wirklichkeit verleihen. In einer Handschrift liebt man das Aussergewöhnliche, die Spannung und den sibyllinischen Reiz, der zwischen den Dimensionen der Vergänglichkeit, des Zeitgeistes und der Ewigkeit lebt. Durch den
geheimnisvollen Lockruf der Antike und durch die Umarmung der schier grenzenlosen Vielfalt an Erscheinungsformen in der Moderne lässt sie uns genüsslich in der Ästhetik einer glühenden, handschriftlich verfassten Romantik schwelgen. In Paul Huggers Buch offenbaren sich Ideale und geheimnisvolle Innenansichten, die neue Räume zum Denken, Träumen und zum Zeitreisen schaffen.
Quelle: scriptura 2011 - S. 13-17