Gut zu wissen
Zurück zum SuchergebnisDer Akt des Schreibens ist eine Selbsterfahrung
Der Akt des Schreibens ist immer ein Selbstentwurf. Indem ich ein bestimmtes Schreibzeug zur Hand nehme, dieses auf dem Papier in Bewegung setze, setze ich mich selbst in Bewegung, und zwar in meine ureigene Bewegung. Bewegung ist immer Selbsterfahrung, Körpererfahrung, Raumerfahrung.
Das Schreiben zielt immer auf die Darstellung eines Inhalts in einer bestimmten Form und innerhalb eines bestimmten (Schreib-)Raums und ist somit eine Frage der Ästhetik. Dabei produziere ich etwas, das ich selbst und auch jeder andere nachvollziehen kann: Die Handschrift ist meine geronnene Bewegung als Schreibspur auf dem Papier. Sie enthält meinen ureigenen Ausdruck, einmalig und unnachahmlich – nicht umsonst ist die persönliche Unterschrift rechtsverbindlich.
Abgesehen von der durch die Schreibbewegung vermittelten Selbsterfahrung enthält das Geschriebene meist die eigenen Gedanken. Wie kommen aber die Gedanken aufs Papier? Dazu hat Heinrich von Kleist sich schon einiges überlegt: In seinem Essay «Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden» hält er fest: «L’idée vient en parlant.» Es sei ihm nämlich zur Fabrikation seiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft nichts heilsamer als mit seiner Schwester zu reden, die hinter ihm sitze mit einer Handarbeit, während er über seinen Akten brüte. Häufi g erfahre er so, was er vielleicht durch stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde: «Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, dass die Erkenntnis zu meinem Erstaunen mit der Periode fertig ist.» Dies spiegelt nichts anderes
als das Vertrauen ins eigene Unbewusste, dahingehend, dass ‹etwas in mir› schon weiss, wohin es soll und will.
Und Schreiben ist ja in gewissem Sinne festgehaltenes Reden: Die Gedanken formen sich, indem man darüber spricht, indem man ihnen die Chance gibt, ausgesprochen zu werden, gewissermassen also: zur Welt zu kommen. Es muss ja nicht gleich eine ‹reziproke Sturzgeburt› sein wie im zweiten Traum Hermann Burgers in seinem sich auf Kleist beziehenden Aufsatz ‹Über die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben›. Anschaulicher ist für den Normalverbraucher der erste Traum: Das Abschlussprojekt für sein Architekturstudium, ein Tierheim für Katzen und Hunde, stagnierte, er zeichnete gedankenverloren zwei Riesenräder, was ihm den Spott von Kommilitonen und Professor eintrug. Dann, in der Nacht, hatte er einen Traum: Am Himmel schwebte ein glänzendes Projektil, die Leute waren verängstigt, aber ein Cousin Burgers, ein Ingenieur-Student, sagte zu ihm: Du musst den Körper nur auffangen. Er schob ein Blatt Papier horizontal unter das Projektil am Himmel, dieses ging lautlos ins Papier ein und war ein perfekter Konstruktionsplan.
Am andern Morgen wusste Burger, wie sein Tierheim aussehen musste: Es waren zwei halbkreisförmige Balkenzelte, verbunden durch die Winkel des Futter- und Pflegetraktes sowie der Verwaltung. In der Fütterungszone Menschenmass und radiale Verengung, in der Auslaufzone Tiermass und breiter werdende Sektoren. Die Idee war genial. Diese Geschichte definiert wunderbar, wie Intuition funktioniert. Diese ist nämlich nicht einfach nur ein ‹Bauchgefühl›. Sie ist vielmehr ein höchst komplexer, individueller und integrativer Prozess, der auf Kenntnis, Wissen und Erfahrung in einer bestimmten Materie basiert.
Merkwürdigerweise fügen sich die Elemente am besten unbewusst zusammen: Man kennt das Problem, denkt es durch, wieder und wieder, und dann soll man es loslassen, darüber schlafen – oder eben: darüber reden oder schreiben! Auf einmal ist die ‹Eingebung› da.
Da sich nun der Mensch zu einem guten Teil über seine Tätigkeiten definiert und eben daraus sein Identitätsgefühl bezieht, ist jedes Tun Erfahrung seiner selbst. Darum auch haben Leute, die sich ihrer selbst nicht sehr sicher sind, häufig ein vermehrtes Bedürfnis nach Betätigung, nach Bewegung. Auch entsteht das berühmte Gefühl des ‹Flow› in beglückendem Tun, und das wiederum kann auch süchtig machen: spielsüchtig, arbeitssüchtig ... Man möchte sich dauernd deutlich erfahren, um sich zu vergewissern, dass man noch da ist.
Im Akt des Schreibens geschieht vieles davon. Burger spricht vom «Schreiben als Form der Gesprächstherapie, Selbstgesprächstherapie». Und zwar ist das Schreiben, genau wie eine Therapie, «ein Prozess, den man sich selber anhängt, mit ungewissem Ausgang, in der Tripelrolle des Staatsanwalts, des Strafverteidigers und des Angeklagten», womit unschwer verschiedene psychische Instanzen verbunden werden können. In diesem Sinne kann Schreiben als Existenzerfahrung in
Echtzeit begriffen werden.
Der Verlust der Schreibfähigkeit aber wird entsprechend existentiell und deprivativ erlebt. Bei einem Versuch mit Parkinsonkranken wurden diese Patienten in einer bestimmten Form von Schreibtherapie trainiert – mit technischem und vor allem auch psychischem Erfolg: Die Verbesserung der Schreibfähigkeit ging einher mit deutlich verbesserter Lebensqualität.
Denn Schreiben ist nicht nur Identitätserfahrung, sondern – immanent – Identitätsstiftung. Ich sehe mich in meiner Schrift selbst, wie in einem Spiegel. Meine Bewegung ist in der aufgezeichneten Schreibspur festgehalten, nachvollziehbar, einsehbar. Ich sehe: Da bin ich. So bin ich.
Und so war das nämlich mit Narziss:
Narzissus, der am Teich sass und im Wasser sein Ebenbild erhaschen wollte, war nicht in sich selbst verliebt, sondern er versuchte, seine Identität zu fassen. Diese ist aber in stetem Wandel begriffen und erfindet sich immer wieder immer neu. Dazu, dies zu erfahren, eignet sich in ausgezeichnetem Masse die eigene Handschrift, die auf dem Papier immer wieder neu entsteht. Man soll nur den Spiegel nicht wegwerfen.
Quelle: Scriptura 2011, S. 7-8