Gut zu wissen
Zurück zum SuchergebnisDas Ende der Schnürchenschrift
Immer mehr fortschrittliche Pädagogen wollen die schnürchenschrift aus der schule verbannen. Wieso eigentlich?
«Stell’ beim Schreiben eine Fliege an», sagte mein Lehrer Schmid mit Tadel in der Stimme, «die Fliege soll dir die fehlenden
iPunkte scheissen!».
Es muss 1957 gewesen sein, im Churer Daleuschulhaus, Primarschüler Werner, mit den Gedanken anderswo, vergass beim Schreiben immer wieder die ominösen Punkte. Der Spruch des strengen Pädagogen kommt mir in den Sinn, als ich kürzlich den Dachboden räumte, und auf alte Schulhefte stiess. «Schrift ungenügend», steht da in einem Geografieheft aus der vierten Primarklasse, das ich damals als Strafe von A bis Z abschreiben musste. Lehrer Schmid war unerbittlich. Der Streifzug durch die verschiedenen Phasen meiner Handschrift beginnt mit den karierten Heften aus der ersten Primarklasse, wo sich krakelige Grossbuchstaben aneinanderreihen. Etwas später wurde in Blockschrift klein mit teilweise grossen Anfangsbuchstaben geschrieben, so ab Ende der zweiten Primarklasse kam die Schnürchenschrift, die in den Heften aller Schüler praktisch gleich aussah. Die Mädchen schrieben zu unserm Leidwesen noch etwas sorgfältiger als wir Buben.
Aus dem Korsett befreit
Meine Schulhefte aus den nächsten Klassen zeigen immer wildere Schriftzüge. Dass Sekundarlehrer Hubbuch dem pubertierenden Jüngling den Tadel «Charakterschrift» an den Kopf warf, nahm ich als Kompliment. Meine Schnürchenschrift
hatte sich aus dem Korsett befreit, war unverkennbar geworden. Die iPunkte wirbelten jetzt über dem Text, ich tupfte sie während des rasanten Schreibens über den Wellen meiner Sätze, und durch das angeschlagene Tempo konnte es schon einmal vorkommen, dass ein Punkt über dem folgenden Wort zu liegen kam. Bedingt durch die Dynamik, waren es allerdings oft keine Punkte mehr, sondern zum Teil Striche oder kleine Haken. Ein Fliegenschiss sieht anders aus. Jetzt wurde ich wegen meiner lange g-Schleifen und den, wie es hiess, unmotivierten Abständen zwischen einzelnen Buchstaben und den schwungvollen Oberlängen gerüffelt. Das Verdikt «Charakterschrift» blieb an mir hängen. In den kommenden Jahrzehnten bändigte ich meine Handschrift zwar wieder etwas, doch die Auffälligkeiten blieben. Ein Grafologe analysierte meine Schreibe anhand eines beliebigen Gesprächsprotokolls aus meiner journalistischen Arbeit vor ein paar Jahren. Ich finde, er hat meinen Charakter mit all seinen Höhen und Untiefen erstaunlich gut getroffen. Dieser Durchblick muss an meiner individuell weiter entwickelten Schulschrift liegen.
Schnürchenschrift ade!
Immer mehr Stimmen werden laut, die Schnürchenschrift in den Schulen aufzugeben, da die Kinder nur noch am Computer
schreiben, wie argumentiert wird. Als Erwachsene sind sie sowieso in Grossraumbüros an Bildschirmen beschäftigt, und Notizen werden nicht mehr mit Bleistift auf Zettel, sondern ins Smartphone getippt. St. Gallen hat den Zwang zur Schweizer Schulschrift schon 1997 abgeschafft, weitere Kantone überarbeiteten ihre Lehrpläne und fördern nun die «gut lesbare, Basisschrift» wie das Luzerner Amt für Volkschulbildung verlauten lässt, «eine schnörkellose Schrift; eine Art Blockschrift, deren Buchstaben nur dort zusammengehängt werden, wo es vom Schreibfluss her sinnvoll ist.»
Wenn es nach den Totengräbern der Schnürchenschrift geht, wird wohl schon bald jeder persönliche Anflug aus den Schriften
getilgt sein. Praktisch soll die Schrift sein, lesbar, aber bitte ohne den überflüssigen Schwung einer Charakterschrift. Für meine Generation war die Schnürchenschrift die Basis der späteren persönlichen Handschrift. Ohne die Zucht eines Lehrers Schmid und seiner Kollegen hätten wir das «Handwerk» jedoch nicht gelernt. Schnee von vorgestern! Opfern wir also alles, was unsere Handschrift persönlich, überraschend und geheimnisvoll macht! Schreiben wir die Liebesbriefe auf dem Mac oder bei Stromausfall zur Not mit der Basisschrift. Als letztes Refugium der Charakterschrift bleibt das Testament. Das wohl persönlichste aller Dokumente ist nur handschriftlich gültig; Individualität ist aus Gründen der Authentizität des letzten Willens wichtig. Mit oder ohne Hilfe einer Fliege.
Das soll uns aber nicht davon abhalten, die Schnürchenschrift und ihre erwachsene Schwester, die Charakterschrift, zu spülen;
denn sie stehen dem ungehinderten Informationsfluss im Wege. Taktgeberin ist Microsoft Word mit 200 Schrifttypen von Times über Courier bis zu Granny old Style, ein digitales TypografenMimikri, das perfekt, mit allen iPunkten am richtigen Ort meine Charakterschrift simuliert.
Quelle: Scriptura 2012, S. 65-66