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Das Comeback der Handschrift
Haben Sie genug von elektronischen Glückwunschkarten und Kürzestnachrichten, die keinen einzigen vollständigen Satz enthalten? Dann setzen Sie ein Zeichen: Verschicken Sie Handgeschriebenes.
Schreiben fühlt sich heute anders an als früher: Man huscht mit den Fingern über die Tastatur oder traktiert mit feinmotorisch durchtrainiertem Daumen die Tasten seines Natels. Etwas von Hand schreiben? Wie altmodisch. Viele tun es nur noch selten. Und wenn sie mal etwas aufschreiben, entsteht ein ungelenkes und unleserliches Gekrakel. Weil man aus der Übung ist. Und weil man die Buchstaben nur so hinschludert beim Notizenmachen oder Einkaufszettelschreiben. «Du hast eine Sauklaue», hiess es während der Schulzeit. Ein Synonym für «Streng dich gefälligst an, sonst wird nichts aus dir.»
Wird das Interesse an der Handschrift verschwinden? Nein, sagen Trendforscher. Im Gegenteil: Sie erlebe ein Comeback. Dass dies gerade im Zeitalter der Mail-Lawinen und Kurznachrichten geschieht, sei durchaus nachvollziehbar. Ist man es inzwischen nicht leid, elektronische Post zu erhalten? Diese hingeworfenen Neujahrsgrüsse oder zusammenkopierten Geburtstagsglückwünsche? Hätte man sich über eine richtige Karte nicht viel mehr gefreut, und zwar eine mit schön ausformulierten, von Hand geschriebenen Zeilen? So etwas kostet Zeit und Mühe, klar. Aber es ist auch ein untrügliches Zeichen von Wertschätzung.
Individualitätsfaktor
Sich abheben vom Einheitsbild des digitalen Schriftverkehrs, auch dies ist ein Grund dafür, warum Menschen wieder zu Papier und Stift greifen – sogar bei der Geschäftskorrespondenz. «Die Handschrift ist Ausdruck von Individualität», sagt Schriftpsychologe Hans-Rudolf Metzger aus Rüschlikon ZH. Sie variiere ebenso wie die Kapillaren in den Fingerbeeren; zwei exakt gleiche Schriften gebe es nicht, trotz der Schulvorlagen, die tendenziell zu einer Vereinheitlichung führten. Doch schon bald bahnt sich die Handschrift ihren eigenen Weg, denn Persönlichkeit lässt sich nicht in Linien und Kästchen pressen. Glücklicherweise, findet Margarethe Denk vom Basler Scriptorium am Rheinsprung. Die normale Schulschrift sei nämlich zum Davonlaufen.
Übungssache
Margarethe Denk beherrscht die Kunst des Schönschreibens, die Kalligrafie. Wer das Schreiben als Liebhaberei betreibt, benutzt dazu gerne Feder und Tinte. «Es ist eine Herausforderung, denn die Feder bietet der Hand Widerstand.» Eine gute Schreibfeder sei nicht so einfach zu führen wie der Kugelschreiber. Man müsse sie beherrschen lernen und viel üben. Aber hat man den Bogen einmal heraus, sei es wunderbar, mit Worten Bilder zu malen, seine Gedanken sichtbar zu machen auf dem Papier. Wenn Buchstaben besonders gut gelingen, sei es die reine Freude; so manches Mal habe sie sich schon in Trance geschrieben. Ab und zu führe die Feder auch ein Eigenleben und produziere schöne Spritzer auf dem Papier.
Stimmungsbarometer
«Man muss die Seele zwischen Federspitze und Papier legen, um der Linie die Form zu geben, die sie haben soll», sagt Margarethe Denk. Ihrer Überzeugung nach lässt sich aus einer Handschrift sogar herauslesen, in welcher Stimmung die schreibende Person gerade war.
Informationsträger
Grafologen sehen noch mehr in der Handschrift. Sie ist ein Informationsträger, sagt Hans-Rudolf Metzger. Sie sagt etwas aus über intellektuelle und soziale Kompetenzen, über das Leistungsvermögen eines Menschen, seine schlummernden Potenziale sowie deren mögliche Entfaltung. «Unsere Handschrift wird vom Hirn aus gestaltet und gesteuert und lässt Rückschlüsse auf den Charakter zu», sagt Katrin Loosli, Grafologin aus Sumiswald. Ist jemand introvertiert oder extravertiert? Ausdauernd, belastbar, ehrgeizig, fantasievoll, verantwortungsvoll? Dies und viel mehr steckt in der Handschrift. Täuschungsmanöver seien ausgeschlossen, weiss Katrin Loosli aus eigener Erfahrung. Sie selbst habe während ihrer Ausbildung zur Grafologin mehrfach versucht, ihre Handschrift zu verstellen, um einen bestimmen Effekt zu erzielen – also die Analyse des Grafologen zu manipulieren. Ein geschultes Auge merke das sofort. Der Schriftfluss leide, das Ganze wirke unnatürlich und gekünstelt. Und damit hinterlasse man einen ebenso schlechten Eindruck wie mit Eselsohren und Tintenklecksen. Zudem: Eine ganze Seite in verstellter Schrift zu verfassen sei äusserst schwierig. «Und beinahe so aussichtslos wie der Versuch, eine Handschrift zu fälschen», ergänzt Hans-Rudolf Metzger.
Handschriftliche Bewerbungen – es gibt Unternehmen oder Personalvermittler, die das verlangen. Manchmal sammeln sie mit einem grafologischen Gutachten Zusatzinformationen über den Bewerber: sein Führungsprofil etwa oder, ob er sich für eine bestimmte Aufgabe eignet. Solche Gutachten würden nicht grundsätzlich, sondern nur im Einzelfall erstellt, um das Gesamtbild eines Bewerbers abzurunden, heisst es bei der TL Consult in Zug. Verlangt wird dafür eine Schriftprobe mit Kugelschreiber oder Füllfederhalter, mindestens 15 Zeilen fortlaufender Text mit Gross- und Kleinschreibung auf Blankopapier, versehen mit Datum und Unterschrift (siehe Kasten).
Sorgfaltsfrage
Wer bei der Raiffeisenbank Münchwilen-Tobel TG eine Lehrstelle möchte, kommt ebenfalls ums Handschriftliche nicht herum, wenn auch aus anderen Gründen. Es geht um Sorgfalt und Sauberkeit, betont Brigitte Sutter, Assistentin der Bankleitung. Nicht das Schriftbild im Detail werde bewertet, sondern der Gesamteindruck: Hat es Korrekturen und Durchgestrichenes? Flecken gar? War da jemand konzentriert an der Arbeit? Beherrscht der junge Mensch die Grammatik? Brigitte Sutter widerspricht der Ansicht, Jugendliche hätten es vor lauter Am- Computer-Sitzen und SMSlen verlernt, etwas Ordentliches zu Papier zu bringen. Die Bilanz der letzten 20 Jahre: keine Verschlechterung des Schriftbilds. «Die jungen Leute haben immer noch eine schöne Handschrift.»
Quelle: Tages-Anzeiger, 2010